Folgen der Orthorexie

In diesem Blogbeitrag beleuchte ich sowohl Mangel- und Fehlernährung, als auch die soziale Isolation, die als Folge der Orthorexie auftreten können. 

Mangel- und Fehlernährung

Kommen Betroffene nicht aus einer Magersucht (siehe Blogbeitrag), entwickelt sich eine Orthorexie in der Regel schleichend. Es werden zum Beispiel Milchprodukte weggelassen, weil sich damit eine bessere Haut versprochen wird oder es wird auf "schwer verdauliche Lebensmittel" auf Grund eines Reizdarms verzichtet. Es kann auch ein ethischer Wunsch nach Reinheit und "gutem Handeln" im Vordergrund stehen, weshalb sich für eine biologisch vegane Ernährungsweise entschieden wird. Unabhängig davon, mit welcher Intention die Ernährungsumstellung gestartet wird,  sieht der Verlauf in die Orthorexie meist wie folgt aus: Es wird sich immer mehr in das Thema Ernährung eingearbeitet. Es findet eine zunehmende Unterteilung in gute und schlechte Lebensmittel statt. Jedes Lebensmittel, was auch nur das geringste Risiko birgt, nicht optimal zur Gesundheit beizutragen, wird ausgeschlossen. Dafür werden diverse (meist unwissenschaftliche) Quellen und/oder Erfahrungsberichte herangezogen. Die Lebensmittelauswahl wird zunehmend einseitiger. Die Liste der "für gesund befundenen" Lebensmittel wird immer kleiner.
Wohin das führen kann, zeigen die folgenden (Extrem-) Beispiele:

Der ehemals Betroffene Nils Binnberg (Buch: "Ich habe es satt" (2019)) beschreibt, dass er letztendlich nur noch fünf Lebensmittel gegessen hat: Räucherlachs, Avocado, Fleisch, Salat und Nüsse.

Die Yogalehrerin Jordan Younger berichtet öffentlich, dass sie auf deren Höhepunkt ihrer Esstörung vegan, glutenfrei, ölfrei, frei von raffiniertem Zucker, mehlfrei und dressingfrei ernährte – sie nahm nur noch Smoothies aus grünem Gemüse und etwas Obst zu sich.
(Quelle: Artikel Spektrum: Ist das noch gesund?, 2018)

Stefan Bratman (Buchautor "Health food junkies. Overcoming the obsession with healthful eating" (2000)) gibt an:  »Ich wurde so ein Snob, dass ich nur noch Gemüse aus eigenem Anbau aß, das maximal 15 Minuten vor Verzehr geerntet worden war. Ich ernährte mich rein vegetarisch, kaute jeden Bissen 50-mal, aß immer an einem ruhigen Ort – also alleine.«


Wichtig bei den genannten Beispielen ist, dass das Ziel der Betroffenen weiterhin eine optimale Gesundheit ist- obwohl sich der Körper schon in einem extremen Mangelzustand befindet. Der Glaube daran, durch absolute Reinheit ein langes Leben zu erreichen, treibt dieses Verhalten an. Es besteht die Überzeugung, das "weniger mehr ist" und jedes "unreine" Lebensmittel massiven Schaden anrichten wird. Dabei wird außer Acht gelassen, dass eine ausgewogene, vielfältige Ernährung maßgeblich ist, um mit allen Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen versorgt zu sein. Die Vielfalt der Lebensmittel sorgt dafür, dass alle Makro- und Mikronährstoffe mit der Ernährung abgedeckt werden.

Je geringer die Vielfalt, desto stärker der Mangel.

Welche Mikro- und Makronährstoffe im Mangel sind, hängt ganz von der verfolgten Ernährungslehre ab. 
Werden ausschließlich pflanzliche Lebensmittel verzehrt und Fett weitestgehend vom Speiseplan gestrichen, ist ein Defizit der fettlöslichen Vitamine E,D,K und A wahrscheinlich. Auch ein Mangel an B-Vitaminen, Eisen, Zink, Calcium und Jod sollte in Betracht gezogen werden. 

Nils Binnberg folgte einer Ernährung, die sehr arm an Kohlenhydraten war. Durch den Verzicht auf jegliche Getreidearten, Obst und Gemüse (außer Salat), ist keine ausreichende Zufuhr von Ballaststoffen gewährleistet, die unter anderem für die Darmgesundheit wichtig ist. Durch den Verzicht auf Kohlenhydrate fehlt dem Gehirn die wichtigste Energiequelle. Konzentration fällt schwer, es können Kopfschmerzen und Schwindel auftreten. Auch wenn der Körper durch die Bildung von Ketonkörpern weiter Energie bereitstellen kann, ist dies nur ein Notprogramm, dass nicht für eine lebenslange Dauer ausgelegt ist. Die Ketone werden aus Fett gebildet. Ist auch davon nicht mehr genug vorhanden, wird letztendlich körpereigenes Eiweiß (Muskeln) zur Energiegewinnung herangezogen. Der Körper ist dann im Überlebensmodus und steht unter Dauerstress.

Bratman beschreibt in seinem Buch, dass er durch den alleinigen Verzehr von Obst und Gemüse zwar Vitamine zuführte, seine Ernährung jedoch extrem eiweißarm war. 
>>Ein andauernder Proteinmangel kann im Extremfall tödlich enden. Es kommt zunächst zu einer erhöhten Infektanfälligkeit und im Verlauf zu einer Reduktion des Herzmuskels, dies kann zu Herzrhythmusstörungen führen.<< (Kasper 2009, S. 287; Biesalski 2010, S. 122f.)

Auch wenn die Lebensmittelauswahl nicht so eingeschränkt ist, wie in den obigen Beispielen, kann sich der Körper in einem Mangelzustand befinden. Dies muss individuell betrachtet werden. Wichtig ist grundsätzlich die Frage: Nimmt der Stress, der mit den strengen Ernährungsregeln einhergeht, überhand und macht unbeschwertes Essen unmöglich? Dann ist die psychische Gesundheit beeinträchtigt und es besteht, sofern gewünscht, Handlungsbedarf. 


Auch wenn eine Gewichtsabnahme nicht das (primäre) Ziel der Betroffenen ist, findet diese in einigen Fällen, wenn auch ungeplant, parallel statt. Befindet sich das Körpergewicht im anorektischen Bereich, ist die Gesundheit stark gefährdet. Neben einem verlangsamten Herzschlag, Herzrhythmusstörungen und Störungen der Nierenfunktion, ist dann das Osteoporose-Risiko erhöht. Häufig kommt es zudem zum Ausbleiben der Periode.


Sozialer Rückzug

Egal wie eingeschränkt die Lebensmittelauswahl letztendlich ist, in den meisten Fällen kommt es im Laufe der Störung zu einem sozialem Rückzug. Grund dafür ist die angestrebte "Lebensmittelreinheit" der Betroffenen. Ein Brokkoli ist dann beispielsweise nur gut, wenn er aus Bioanbau stammt. Es muss sichergestellt werden, dass alle Speisen frei von Zucker, Konservierungs- und Zusatzstoffen sind. Das macht einen Besuch im Restaurant nahezu unmöglich- wenn es sich nicht gerade um ein ausgelobtes "Clean-Eating-Restaurant" handelt. Oft streben die Betroffenen aber auch eine bestimmte Zusammensetzung der Speisen an oder aber eine spezielle Zubereitung. All diese Regeln, verbunden mit dem Gefühl, dass nur selbst beschaffene Lebensmittel wirklich sicher sind, sorgen dafür, dass Auswärtsessen möglichst vermieden wird.  Einige Betroffene beschreiben, dass sie zunächst versucht haben ihr Umfeld von ihrer Ernährungsweise zu überzeugen. Sind sie hier auf Ablehnung oder Wiederstand gestoßen, findet eine "bewusste Abwendung von anders essenden Menschen" statt. Zunächst sehen Personen mit orthorektischem Essverhalten dies als wichtigen, einzig richtigen Schritt an. Der damit einhergehende Verlust der Lebensqualität, wird den meisten Betroffenen erst im späteren Verlauf der Störung bewusst.

Der Rückzug kann sich auch auf das Berufsleben auswirken, wenn die Anwesenheitspflicht im Büro durch bestimmte Koch- oder Zubereitungsrituale nicht mehr eingehalten werden kann. Dies ist dann für Betroffene mit extremen Stress verbunden. Oft werden Speisen mit hohem Zeitaufwand zu Hause vorbereitet und in diversen Tupperdosen zur Arbeit transportiert. Für einige Betroffene ist aber selbst das nicht möglich, da sie davon überzeugt sind, dass Speisen direkt nach der Zubereitung gegessen werden und nicht gelagert werden sollten. Gesellt sich zum aufwendigen Essverhalten auch noch ein extremes Sportverhalten, ist dies neben einer Vollzeitbeschäftigung kaum zu bewältigen. Der Alltag wird immer mehr durch Regeln und Rituale geprägt, deren Nicht-Einhaltung zu starkem Unbehagen führen. So bleibt irgendwann nur noch der Wechsel ins Homeoffice, Kündigung und/oder ein neuer Arbeitsplatz. Das macht deutlich, dass die Einhaltung der selbst auferlegten Regeln alle anderen Lebensbereiche überschattet und dabei höchste Priorität hat. Es werden lieber woanders Abstriche gemacht, als auch nur ein wenig von den eigenen Ritualen abzuweichen.

Auch in den Urlaub zu fahren, ist für Betroffene meist mit Stress verbunden. Denn selbst wenn sie sich für eine Unterkunft mit Selbstversorgung entscheiden, ist nicht immer klar, ob entsprechende, "reine" Lebensmittel in der Umgebung beschaffen werden können. So gibt es zum Beispiel Länder/Inseln auf deinen es keine (große) Auswahl an Biolebensmitteln gibt (z.B. die Kanaren). Betroffene recherchieren dies meist im Voraus und schließen solche Länder dann direkt aus. Sollte jedoch erst bei Ankunft am Reiseziel klarwerden, dass die gewünschten Lebensmittel nicht verfügbar sind, setzt bei den meisten Betroffenen Panik ein. Die Angst davor etwas "unreines" bzw. "ungesundes" zu essen ist so groß, dass im Zweifel nichts gegessen wird und die Reise als Fastentrip gesehen wird. Das fremde Land und die Kultur können dann nicht mehr genossen werden. Es ist eine unsichere Umgebung und die Betroffenen wünschten, sie wären zurück in ihrer gewohnten Umgebung mit ihren "sicheren" Lebensmitteln. Auch hier wird wieder deutlich, dass jegliche Freude und Genuss der "perfekten" Ernährung unterstellt sind. 

Das, was zunächst als überlegenes Verhalten angesehen wird, führt im Laufe der Störung zu immer größerem Leidensdruck. Denn selbst wenn die Betroffenen realisieren wie viel sie "im Leben verpassen", scheint es unmöglich von den selbst auferlegten Regeln abzuweichen. Allein der Gedanke daran löst Angst und Unbehagen aus. Hier bedarf es einer professionellen Begleitung, um sich nach und nach von alten Denkmustern zu lösen und wieder zurück in Richtung Freiheit zu gehen. 

Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

Die ständigen Gedankenkreise um Essen, Einkauf und Zubereitung sind belastend. Ein "normaler" Alltag ist kaum noch möglich. Der Einkauf im Supermarkt wird zum Spießroutenlauf. Überall sitzt der Feind (ungesunde Lebensmittel). Jedes Produkt muss ausgiebig auf seine Inhaltsstoffe geprüft werden. Erst wenn es den strengen Regeln entspricht, darf es in den Einkaufswagen. Dabei spielen Geschmack und Preis eine untergeordnete Rolle. Für einige Betroffene ist es schier unmöglich das neuste Superfood-Produkt, welches "frei-von allem Bösen" ist und Gesundheit verspricht, nicht zu kaufen. Auch wenn der Preis exorbitant hoch ist.  "Ich muss es haben."

Lebensmittel, die beispielsweise Zucker oder Weizen enthalten, werden direkt ausgeblendet. Sie sind "verboten" und werden ignoriert. Eine meiner Patientinnen beschreibt, wie gerne sie mal wieder durch den Supermarkt gehen würde, ohne dieses Raster im Kopf, mit dem sie alle Lebensmittel einteilt. Dieser Wunsch ist der erste Schritt in Richtung Heilung, bedeutet aber noch lange nicht, dass das Raster und die Regeln zu einfach abzulegen sind. Die Ängste, die mit der Abgabe von Kontrolle verbunden sind, sind einfach zu groß. Die Panik, die bei dem Gedanken an den Verzehr eines "ungesunden Lebensmittels" entsteht und die Überzeugung davon krank zu werden, überwiegen. Es fühlt sich an, als wäre man in einem Käfig gefangen, den man sich selbst gebaut hat. Der Käfig wird bewacht von Ängsten und Glaubenssätzen, die man sich selbst aufgestellt hat. Aus dem Gefängnis auszubrechen, bedeutete die lang erarbeiteten Regeln zu brechen und ins Ungewisse zu gehen. Was wird passieren? Werde ich die Kontrolle verlieren, nur noch Ungesundes essen, krank werden und alles bereuen? Der Gedanke daran scheint unüberwindbar zu sein. Auch, wenn Betroffenen sich die Teilnahme an sozialen Veranstaltungen oder sei es nur Freunde zu treffen, noch so sehr wünschen- die Hürden auf dem Weg dorthin scheinen unüberwindbar. 

Die Widerstände, die hier auftauchen, müssen genauer betrachtet werden. Sie wirken wie ein Überlebensmodus. Sie bieten den Betroffenen Halt, Sicherheit und Schutz. Es gab einen Moment im Leben der Betroffenen, in dem sie unfassbar viel aus den Regeln und der Essstruktur ziehen konnten. Niemand baut sich einfach so einen Käfig. Und genau deshalb dürfen Betroffene diesen Mustern, bzw. sich selbst mit entsprechender Wertschätzung und Respekt begegnen. Es geht nicht darum dagegen anzukämpfen, es geht darum zu verstehen. Und auch wenn, wenn dieser erste Schritt gegangen wird das erste mal Kuchen essen mit einer Freundin ansteht, bleiben die Stimmen im Kopf nicht einfach stumm. Sie feuern weiter: 

"Das solltest du nicht tun. Du könntest jetzt auch etwas Nahrhaftes essen."
"Jetzt geht alles den Bach runter."
"All das gesunde Essen der letzten Tage- umsonst."
"Das wird viel Arbeit, das wieder auszugleichen."

Und auch hier heißt es wieder: hinschauen und erkennen, was die ursprüngliche Intention dahinter war und abgleichen, ob es das ist, was man sich im hier und jetzt für sein Leben wünscht.