Magersucht und Autismus:
Jeden Tag das gleiche (essen)
 

Bei Magersucht (Anorexia nervosa) stehen die Gewichtsabnahme und das kontrollierte Essen im Fokus, die Gründe dafür können sehr verschieden sein. Doch ich habe immer wieder Klienten, denen es vor allem um Struktur geht. Immer die gleichen Abläufe und immer das gleiche Essen geben ihnen Sicherheit. Feste Regeln beim Essen geben Halt und vermitteln das Gefühl den Alltag besser bewältigen zu können. Auch nur die kleinste Abweichung davon kann maximalen Stress auslösen. All diese Merkmale finden sich auch regelmäßig bei Menschen mit Magersucht, sollten je nach Ausprägung jedoch genauer hinterfragt werden. 
Denn was noch wenig bekannt ist: Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) haben ein erhöhtes Risiko, an einer Essstörung wie Magersucht zu erkranken. Ca. 5 % der Patienten, die unter einer Essstörung leiden, erfüllen auch die diagnostischen Kriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung, am häufigsten Patienten mit einer Anorexia nervosa (Zeeck & Nickel, 2023).

In diesem Artikel möchte ich darüber aufklären, wie sich Autismus im Kontext von Magersucht zeigt und welche Schwierigkeiten sich daraus für Betroffene und ihre Behandlung ergeben.

Was ist Autismus?

"Autismus ist keine Krankheit, sondern eine Entwicklungsstörung. Informationen werden vom Gehirn eines autistischen Menschen nicht richtig erkannt oder anders wahrgenommen. Autistische Menschen sehen die Welt quasi mit anderen Augen. Sie haben eine andere Wahrnehmung als nicht-autistische Menschen. Sie hören Geräusche wie einen Rasenmäher oder ähnliches beispielsweise wesentlich lauter. Das macht ihnen oft Angst." 

Quelle: https://autismus-spektrum.com/autismus-leicht-erklaert/


Warum Menschen mit Autismus ein höheres Risiko für Magersucht haben


Viele autistische Menschen empfinden Sicherheit in Routinen und festen Strukturen. Sie haben oft empfindliche Geschmacksknospen und empfinden bestimmtes Essen und gewisse Geschmäcker als zu intensiv. Daher essen sie sehr selektiv und ernähren sich streng nach ihren Vorlieben. Zudem finden sie bestimmte Texturen unangenehm. Und essen dann beispielsweise ausschließlich Lebensmittel mit einer bestimmten Konsistenz.
Es ist wichtig bei der Diagnostik zu erfragen, warum bestimmte Lebensmittel wegelassen werden.
Sowohl von Anorexie-Betroffene, als auch Menschen mit Autismus neigen zu hohem Perfektionismus. Dies führt oft zu strikten Essensregeln und übermäßiger Kontrolle über das Essverhalten. Beide erfahren Erleichterung im kontrollierten Essverhalten, da es einen scheinbar kontrollierbaren Teil ihres oft herausfordernden Lebens darstellt. Doch diese Kontrolle kann sich schnell in eine gefährliche Essstörung verwandeln.

1. Rigide Verhaltensmuster und Denkmuster
Menschen mit Autismus fühlen sich oft sicherer, wenn sie klar strukturierte Routinen und Abläufe einhalten, was eine Essstörung begünstigen kann. Der Zwang, bestimmte Ernährungspläne einzuhalten oder genaue Mengen zu messen, bietet eine Art von Stabilität. Dies kann jedoch das Essverhalten so stark einschränken, dass eine Mangelversorgung entsteht. Die strenge Routine kann schwer durchbrochen werden und erschwert es, auf flexiblere und gesunde Essgewohnheiten umzustellen.

2. Sensorische Empfindlichkeiten gegenüber Lebensmitteln
Viele Menschen im Autismus-Spektrum haben spezifische sensorische Empfindlichkeiten. Texturen, Gerüche oder Geschmäcker bestimmter Lebensmittel können sehr unangenehm wirken, sodass die Auswahl an akzeptierten Nahrungsmitteln stark eingeschränkt ist. Dies kann bei Magersucht dazu führen, dass nur eine sehr kleine, festgelegte Anzahl von Lebensmitteln akzeptiert wird, was die Nährstoffversorgung beeinträchtigt und das Risiko für Mangelernährung erhöht. Es kann sein, dass autistische Menschen bestimmte Lebensmittelgruppen komplett meiden, was dazu führt, das noch weniger Nahrung zu sich genommen wird.

3. Soziale Herausforderungen und Rückzug
Soziale Interaktionen können für autistische Menschen oft anstrengend und überwältigend sein, sodass sie häufig einen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben vorziehen.
Sie empfinden Smalltalk als nutzlos und anstrengend. Es fällt ihnen schwer Mimik und Gestik ihres Gegenübers zu lesen, sowie Sarkasmus und Ironie zu deuten. Witze werden meist nicht oder erst im Nachhinein verstanden. Zudem sind laute Plätze, belebte Städte oder Partys meist überfordernd für sie und führen zur Reizüberflutung. Sie reagieren besonders empfindlich auf Umweltreize wie offene Fenster, das Parfum von anderen oder das Waschmittel der Personen im Raum. Darum findet der soziale Rückzug meist unabhängig von- und somit vor der Essstörung statt.   
Bei Menschen mit Anorexie (ohne Autismus) entsteht die soziale Isolation meist vor allem durch die Essstörung, da das gemeinsame Essen und das soziale Beisammensein rund um Mahlzeiten eine stressige Herausforderung darstellen können. Der soziale Rückzug wiederum verstärkt die Isolation. Gleichzeitig ist das soziale Netz aber sehr wichtig für die Genesung.

4. Hoher Perfektionismus und Selbstansprüche
Ein hohes Maß an Perfektionismus ist sowohl bei Menschen mit Autismus als auch bei Menschen mit Anreoxie häufig zu beobachten. Perfektionismus kann sich bei Magersucht in einem exzessiven Streben nach einem bestimmten Körperbild und strikter Gewichtskontrolle ausdrücken. Autistische Menschen neigen dazu, strenge Maßstäbe an sich selbst zu setzen, und diese können sich auch auf den Körper und das Essverhalten beziehen. Das Verlangen nach Kontrolle und „Perfektion“ im eigenen Körperbild kann den Heilungsprozess erschweren und dazu führen, dass Betroffene sich schwertun, den Weg zu einer gesunden Beziehung zum Essen zu finden.

5. Fixierung auf Details und spezifische Interessen
Ein weiteres typisches Merkmal des Autismus ist die Fixierung auf spezifische Details oder Interessensgebiete. Bei Magersucht kann dies eine extreme Beschäftigung mit Kalorien, Nährwertangaben oder bestimmten Ernährungsplänen sein. Diese Detailverliebtheit kann den Zustand verschärfen und die Person noch stärker in die Essstörung treiben, da viel Zeit und Energie auf Nahrungsregeln und -informationen verwendet wird.

Besondere Herausforderungen in der Therapie

Autismus und Magersucht bringen sehr spezifische Symptome und Bedürfnisse mit sich.
 Bei Vorliegen von Autismus ist es wichtig, dass therapeutische Ansätze auf die Besonderheiten autistischer Menschen abgestimmt werden. Herkömmliche kognitive Verhaltenstherapie, die häufig bei Essstörungen angewendet wird, basiert auf Flexibilität im Denken. Sie setzt die Fähigkeit voraus emotionale Auslöser zu erkennen. Diese Ansätze stoßen jedoch bei autistischen Menschen oft an ihre Grenzen, da die Fähigkeit zur emotionalen Wahrnehmung und das Bedürfnis nach klaren, vorhersehbaren Strukturen stärker ausgeprägt sind.
Ein auf Autismus abgestimmter Therapieansatz sollte daher auf klare, strukturierte Abläufe und sensorische Bedürfnisse der Betroffenen eingehen. Das Ziel ist es, die Flexibilität langsam und schrittweise zu fördern, ohne übermäßigen Stress auszulösen. Außerdem ist es hilfreich, die sozialen Herausforderungen gezielt anzugehen, um den sozialen Rückzug zu mindern und Unterstützung in den Heilungsprozess zu integrieren. Hier kann eine psychotherapeutische Begleitung einer in diesem Bereich erfahrenen Fachkraft sehr unterstützend sein.

Spezifische Herausforderungen für Autisten

Dr. Christine Preißmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Im Alter von 27 Jahren erhielt sie die Diagnose Asperger-Syndrom. Sie hat in einem Fachartikel der Thieme-Zeitung beschrieben, welche Schwierigkeiten und Herausforderungen sie erlebt (hat):
 
 Hier ein paar Beispiele:
 
 - „Vor allem in den ersten Semestern stellte mich die geforderte Gruppenarbeit immer wieder vor Probleme, ich war nicht wirklich in der Lage, mit anderen Menschen zu diskutieren, mich mit ihnen auszutauschen und notwendige Kompromisse einzugehen. Manchmal gab es die Möglichkeit, stattdessen alleine zu arbeiten, was mir sehr half.

- Von den fachlichen Inhalten her war der Untersuchungskurs mit die größte Herausforderung. Es fiel und fällt mir auch heute noch schwer, mich anfassen zu lassen, deshalb habe ich schließlich darum gebeten, dass man mich als „Untersuchungsobjekt“ auslässt, weil ich damit Probleme hatte.

- In der Regel ist für autistische Menschen der Kontakt zu Kommilitonen problematisch. Von uns aus können wir häufig keinen Kontakt herstellen und sind isoliert. Das macht uns zu Außenseitern, wenn es um studentische Aktivitäten geht, es begünstigt Hänseleien und kann auch dazu führen, dass wir wichtige Informationen nicht erhalten, die sich durch Mundpropaganda verbreiten sollen. (…)

- Wir brauchen in hohem Maß ein Gefühl der Sicherheit, Vertrautheit und Vorhersehbarkeit. Auf Veränderungen aller Art reagieren wir oft mit Angst und Verunsicherung. Wichtig sind für uns rechtzeitige Informationen, wenn etwas verändert werden soll.

- Generell sind Informationen sehr wichtig, daher ist es notwendig, auch selbst aktiv zu werden und sich so viele Kenntnisse wie möglich schon im Vorfeld zu verschaffen (Semesterinhalte; Prüfungstermine etc.). (…)

- Da wir ein sehr wörtliches Sprachverständnis haben, verstehen wir Metaphern und Redewendungen meist wörtlich und können nur ungenaue, wage Arbeitsanweisungen oder abstrakte Begrifflichkeiten oft nicht verstehen. Dies muss den Verantwortlichen unbedingt vermittelt werden, man muss sie gezielt darum bitten, sich ganz konkret und exakt auszudrücken und auch genau das zu sagen, was sie meinen.

- Durch viele verschiedene Sinneseindrücke sowie die ständige Anwesenheit anderer Menschen sind wir oft schnell überfordert. Dann ist es wichtig, rechtzeitig eine Pause zu machen und die freie Zeit an einem ruhigen Ort zu verbringen, etwa in der Bibliothek.

- Wir haben Defizite in der Fähigkeit zum Lernen durch Imitation und profitieren sehr von lieben, geduldigen Menschen, die uns die Dinge, die wir nicht auf Anhieb verstehen können, nochmals in Ruhe erklären.

- Eine genaue Einweisung ist wichtig. Die Aufgaben und Arbeitsschritte sollten strukturiert sein, exakt beschrieben und ausreichend oft wiederholt werden können, bis man sie sicher ausführen kann. Insgesamt benötigen autistische Menschen oft eine längere Einarbeitungszeit, können dann aber sehr selbstständig und zuverlässig die Tätigkeiten ausführen.“