Was ist Orthorexia Nervosa?

Der Trend "Gesundheit"

Gesund, gesünder- perfekt. Es scheint immer noch besser zu gehen. Orthorexie Betroffene studieren Artikel, Bücher und folgen Social Media Tipps. Lebensmittel, die als ungesund gelten, werden weggelassen. Bei der Recherche kommen Informationen zusammen, die sich teilweise widersprechen. Das stresst zusätzlich bei der "perfekten" Umsetzung. Die Auswahl an Lebensmitteln, die noch als "sicher" gelten, wird immer kleiner. Die Ernährung wird einseitig, ohne das Betroffene es merken.

Dabei sollte eine gesunde Ernährung einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben. Beziehungen zu Familie und Freunden, Lebensqualität oder die Psyche sollten davon nicht negativ beeinflusst werden. (Quelle: Anna Brytek-Matera (2012)) 

Werden Ernährungsregeln und Konzepte mit Zwang, Härte und Druck verfolgt, setzt dies Betroffene unter Dauerstress und macht einen "normalen" und entspannten Alltag unmöglich. 


In diesem Blogbeitrag zeige ich auf, ob Orthorexia Nervosa (kurz Orthorexie) als Zwangs- oder Essstörung eingeordnet eingeordnet werden kann.

Orthorexie = Zwangsstörung?

Eine Zwangsstörung zeichnet sich durch obsessive Gedanken und Verhaltensweisen aus. Als Beispiel wäre hier der Waschzwang zu nennen. Betroffene empfinden einen inneren Druck bestimmte Handlungen (z.B. Hände waschen) immer wieder auszuführen. Dadurch wird eine Angst abgewehrt (z.B. vor Verunreinigungen und Krankheitserregern).
50-60 % der Patienten mit einer klassischen Essstörung verhalten sich zwanghaft*.
Auch bei Menschen mit orthorektischem Essverhalten lassen sich zwanghafte Züge erkennen.

Hier ein paar Beispiele (sind bei Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt): 

  • Permanentes Grübeln über die Ernährung (was, wann, wieviel und wie soll gegessen werden)
  • Strukturierte Planung der Mahlzeiten und Panik bei Nichteinhaltung
  • Einhaltung bestimmter Zubereitungsarten, teilweise bestimmte Reihenfolge der Kochzutaten 
  • Teilweise stundenlange Zubereitung der Mahlzeiten, ggf. Anbau & Herstellung eigener LM
  • Bestimmte Lebensmittel "dürfen" nur getrennt verzehrt werden 
  • Rituale beim Essen (z.B. immer zu bestimmten Uhrzeiten, im zeitlichen Abstand, X-mal kauen...)
  • Ausgeprägte Angst vor Krankheit, bzw. Verlust der Gesundheit 
  • Kauf von immer gleichen Lebensmitteln, Panik, wenn diese nicht verfügbar sind


Weiter Symptome findest du hier.


Abgrenzung
Betroffene eines (Wasch-)Zwanges empfinden ihr Verhalten als sehr belastend und versuchen dagegen anzukämpfen. Man spricht in der Psychologie von "Ich-dyston", was bedeutet, dass diese Person ihre Gedanken und Handlungen als nicht zu ihrem "Ich" gehörend und somit als fremd und störend erlebt.

Personen mit orthorektischem Verhalten sehen ihr Verhalten (bis zur Krankheitseinsicht) als nicht störend an. Sie sind so sehr überzeugt von dem was sie tun und denken, dass sie auch Menschen in ihrem Umfeld davon überzeugen möchten, dasselbe zu tun. Betroffene identifizieren sich also mit ihrem Verhalten (Ich-syston). Im Verlauf der Störung wird der Leidensdruck jedoch auch meist größer und Essverhalten wird immer mehr als störend empfunden (Ich-dyston). 

Ob orthorektisches Essverhalten grundsätzlich eine Zwangsstörung darstellt, wird von Experten weiterhin diskutiert. Richard Pesikoff, Professor in Psychologie und Verhaltenswissenschaften, würde Orthorexie einer Zwangsstörung zuordnen, da das Verhalten der Betroffenen durch Perfektionismus, Angst und Zwanghaftigkeit geprägt sei. Er argumentiert weiter: "Ist es einer Person durch ihr Verhalten nicht mehr möglich, an der alltäglichen Gesellschaft teilzunehmen, beginnt das Problem. Es kann in Funktionsbereiche übergreifen.“  (Mathieu 2005). Auch einige Studien haben gezeigt, dass zwanghafte Symptome bei orthorektischen Personen vorhanden sein können (Pontillo M. et. al (2022)). Dagegen spricht jedoch, dass sich Betroffene, zumindest im früheren Stadium, nicht als belastend ansehen und sich damit identifizieren.

* (Barthels und Pietrowski 2012; Meyer- Gross und Zaudirg 2007; Ney 2004) 

Einordnung als Essstörung?

Bisher taucht die Orthorexie nicht als Essstörung in den Diagnosekriterien der ICD 10 und DSM IV-TR auf. Sie wird jedoch teilweise der Anorexie (Magersucht) untergeordnet.

Dabei lassen sich die beiden Störungsbilder durch folgende Merkmale von einander abgrenzen:

Ziel der Orthorexie-Betroffenen ist maximale Gesundheit. Dabei fungiert die Angst davor krank zu werden, als Antreiber. Die Entscheidung für ein Lebensmittel wird nach dem Nährwert und der Funktion des Lebensmittels getroffen und nicht auf Grund der Kalorienmenge. Gleichzeitig kann jedoch der Wunsch vorhanden sein, einem bestimmten körperlichen Ideal zu entsprechen, welches eher einem schlanken, bzw. trainierten Körper entspricht, der als gesund angesehen wird.
Das Gewicht der Betroffenen kann sich im weiteren Verlauf der Symptomatik im gesundheitsgefährdenden Bereich befinden, muss es aber nicht.

Ziel einer magersüchtigen Person ist es Gewicht zu verlieren, wobei sie von der Angst des "Dickseins" angetrieben wird. Sie entscheidet sich für Lebensmittel mit möglichst niedriger Energiedichte (Kaloriengehalt), wobei der gesundheitliche Aspekt kaum eine Rolle spielt.
Das Gewicht fällt im Laufe der Symptomatik in einen gefährlich niedrigen Bereich und es liegt eine Körperbildstörung vor. (Betroffenen erscheint der eigene Körper trotz extrem niedrigen Gewicht als zu "dick".)

(Warum der Übergang schleichend sein kann, erfährst du in diesem Artikel)

Gleichzeitig lassen sich aber auch einige Parallelen der beiden Störungsbilder erkennen:

  • Ausgiebiges Nachdenken über die Ernährung
  • Perfektionismus
  • Geringes Selbstwertgefühl (das Gefühl, nicht genug zu sein)
  • Schuldgefühle, wenn sich nicht an selbst aufgestellte Regeln gehalten wird
  • Zwanghafte Essens- und Zubereitungsrituale
  • Alleiniger Verzehr weniger, ausgewählter Lebensmittel
  • Starkes Kontrollbedürfnis
  • Kreieren einer Identität durch das Essverhalten
  • Mangelernährung (bei Anorexie gewollt, bei Orthorexie ungewollt)
  • Zwanghaftes Sport- und Bewegungsverhalten (zur Gewichtsabnahme bzw. für "Gesundheit")
  • Fehlende Krankheitseinsicht

(Quelle: DIMDI, 2013, S. 205 f.; Sass 2003, S. 645 ff.)

Bei einer Studie aus der Schweiz (Schnyder et al. 2012), wurde überraschender Weise festgestellt, dass 60% der Orthorexie-Betroffenen im Laufe ihres Lebens unter einer Binge-Eating-Störung (Ess-Sucht) litten, 50% Bulimie (Ess-Brech-Sucht) hatten und bei 30% in der Vergangenheit eine Anorexie diagnostiziert wurde. Ebenso möglich wäre es, dass diese Störungsbilder nach der Orthorexie auftauchen.

Laut der Psychologin Anna Brytek-Matera kann Orthorexie nicht als neue Essstörung betitelt werden, da es deren wichtigsten Symptome nicht erfüllt. Dazu gehören: Starke Angst vor Gewichtszunahme, extreme Gewichtskontrolle, Überbewertung von Körperform und Gewicht.
Sie schlägt die Kategorisierung als "gestörtes Essverhalten mit zwanghaften Symptomen" vor.



Zusammenfassung

 
Die Orthorexie (O.) lässt sich weiterhin nicht klar einordnen, muss aber dennoch ernst genommen werden. Der Stern bezeichnet O. in einem Artikel als verhaltenspsychologische Ernährungsstörung. Laut aktueller Studienlage sollte die Orthorexia Nervosa zumindest als "Verhalten mit klinischer Relevanz" und nicht nur als "Lifestyle-Phänomen" betrachtet werden- auch wenn eine direkte Zuordnung zu Ess- oder Zwangsstörungen als kompliziert und unklar errachtet wird (M. Pontillo et. al. 2022, Review).